"Making Of" Le Pop 1

"Making Of" Le Pop 1

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"Scheiße, scheiße, scheiße! – Eben hatte ich doch noch mein Portemonnaie und jetzt ist es weg. Gerade noch ein Bier damit bezahlt." – 'Tja, aber dann hättest du es nicht auf der Theke liegen lassen sollen' sagte streng mein mich rügendes Ich um 3 Uhr morgens in meiner Lieblingsbar. Blöd. Ja, wirklich blöd gelaufen. So fing das alles an. Ich war an dem Abend auf einem Konzert. Das ist, wie wir dann später bei popkomm.de sagten: "Keine Meldung", weil ich zu der Zeit ständig auf Konzerte ging. Und es waren so viele, dass ich mir auch sehr obskure Bands anschaute, einfach nur, weil ich zu neugierig war.

An dem Abend hatte ich mir das Schweizer Projekt Weltraumforscher angesehen. Mit mir im Publikum weitere vier oder fünf Leute. Die Band fand ich seltsam aber auch gut - nur nach der intimen Atmosphäre im kleinen Club war mir noch nach ein bisschen Gesellschaft. Ich ging ins Sixpack, einen Laden auf der Aachener Straße in Köln, den es nach ein paar Besitzerwechseln immer noch gibt. Und zu der Zeit war ich da so häufig, dass ich mich schon sehr zuhause fühlte. Und das machte mich wohl unaufmerksam und auf einmal stand ich nicht nur ohne Geld, sondern auch ohne Bankkarte und Personalausweis da.

Das hieß für die nächsten Tage: Rumfahren – zum Amt gehen, zur Bank gehen und Geld besorgen. Und mit Letzterem fing ich an. Also erstmal Geld. Ich hatte zuhause stapelweise Promo-CDs und Kassetten – von einem meiner vier Jobs, mit denen ich mich über Wasser hielt. Mein Redakteur beim City-Mag nannte das ein "hybrides Geschäftsmodell". Klingt nicht seriös, war es auch nicht, funktionierte aber. Neben der Schreiberei von Konzerttipps und Plattenkritiken war ich noch Springer in einem Plattenladen und DJ. Den größten Teil meines monatlichen Budgets erwarb ich mir allerdings durch das Verfassen von mehr oder weniger flotten Moderationen für einen Musik-Kanal im TV. Rückblickend ist meine größte Leistung wohl gewesen, einmal die Begriffe "Four To The Floor" und "Quattro Stagioni" miteinander zu verbinden, weil Felix Da Housecat vor seinem Comeback als Pizzabote gearbeitet hat. Ich wüsste wirklich gerne, ob das Publikum zwischen 0 und 1 Uhr morgens, für das ich schrieb, einen Sinn für solche Einfälle hatte. Zumindest meinem zuständigen TV-Redakteur gefiel so ein schöner Quatsch.

Also – die CDs und Kassetten hatte ich, weil mir der Redakteur beim City-Mag die zusteckte. Das war eine ganze Menge und ich kannte einen Laden, der dafür berühmt war, 2nd-Hand und Promo-Ware für anständiges Geld entgegenzunehmen und es mit der musikalischen Qualität nicht so genau zu nehmen. Ich sortierte die aus, von denen ich wusste, dass ich sie auch im Normal verkaufen konnte - das war der Plattenladen, in dem ich jobbte. Dann lud ich den Schrott, der übrig blieb, in zwei große Kartons und stieg in meinen Ford Fiesta.

Auf der Suche nach einem mich tröstenden Soundtrack stieß ich auf ein Tape, was ich schon lange mal hören wollte. Hatte mir mein DJ-Kollege Oliver zugesteckt, der wie ich im "L" auflegte. Das war mein anderes Wohnzimmer. Toller Laden in Ehrenfeld. War eigentlich eine einfache Kneipe, in der man Billardspielen und Flippern konnte. Allerdings gab es dort auch ein täglich wechselndes DJ-Programm. Ich war der Sonntags-DJ. Oliver war nur alle vier Wochen da und hatte einen Spezial-Abend mit französischer Musik. Fand ich ziemlich obskur. Im "L" gab es Electro und HipHop-DJs, Leute die auf "selten gehörte Musik" spezialisiert waren, einer der Rockabilly und Hardcore mit Exotica mischte, Krautrock-Experten und DJs, die sich mit japanischer Musik auskannten und natürlich auch Indie-Typen wie mich. Es gab irgendwie alles und viele der DJs waren oder wurden meine Freunde. All das fand ich nicht seltsam, sondern irgendwie unterhaltsam und ich lernte sehr viel Musik über meine "L"-Besuche kennen. Allerdings einen ganzen Abend nur mit französischer Musik zu bestreiten, das fand ich sehr verwegen – und tatsächlich war ich, bis mir der Kollege das Tape in die Hand drückte, erst einmal oder so da gewesen und hatte nicht richtig hingehört. Das sollte sich jetzt ändern.

"Daft Pop" stand auf der Hülle und ich kannte eine einzige Künstlerin aus der Trackliste: Françoiz Breut. Ihr Debüt stand im Normal lange auf der Leiste für besonders empfehlenswerte Platten. Sonst hatte ich kaum französische Musik daheim, spontan fällt mir gerade nur meine Live-LP von Jaques Brel (jaja, ich weiß, das ist ein Belgier) ein. Den Rest des Tapes kannte ich nicht. Ich fuhr rum und hatte eigentlich ziemlich schlechte Laune. Mir hatte man schließlich gerade das Portemonnaie gestohlen und ich musste mit der Bank telefonieren und einen Termin bei der Stadt ausmachen und all das und vor allem zuerst CDs zu Geld machen. Tapes nahm der 2nd-Hand-Händler auch, hieß es. Doch zurück zur Kassette von Oliver. Die ging überraschend gut los. Ein komischer Groove, etwas elektronisch, etwas Reggae-Downbeat, gutes Tempo und eine seltsam drehende Melodie als Hookline. Dazu sang einer auf Französisch und ich verstand trotz meines Schulfranzösischs nicht ein Wort. War aber egal. Zu der Zeit hörte ich viel jamaikanischen Dancehall und davon verstand ich meist auch nichts. Leute, die bei Musik sehr viel auf Texte Wert legten, waren mir eh suspekt. Also war ja ein Tape in einer Sprache, die ich nur sehr schlecht beherrschte, etwas was mir vom Prinzip her schon mal gut gefiel.

Jedenfalls besserte sich meine Laune schon beim ersten Stück. Ich fuhr so im stockenden Großstadtverkehr vor mich hin, hörte immer mehr zu und fand es immer besser – eine Frau sang "beau comme garçon" – eigentümlich ruckeliger Rhythmus, komische kleine Trompete und sonst passierte in dem Song nicht viel. Ich mochte das – der offene Klang und vor allem der Raum für die Stimmen, der das alles so transparent erscheinen ließ. Ich stieg beim 2nd-Hand-Laden aus. Der Mann hinter der Theke überflog mein Promo-Sammelsurium und steckte mir genug Scheine zu, so dass ich nicht nein sagen konnte. Und das Beste: er nahm alles. So langsam freundete ich mich mit meinem Schicksal an. Immerhin hatte ich schon jetzt aus Nichts – so viel hatte ich für die CDs in der Anschaffung ausgegeben – den kompletten Betrag, den man mir in der Kneipe gestohlen hatte, wieder rausgeholt.

Ich fuhr zum Normal, hörte weiter den Chanteusen und Chanson-Sängern zu. Ein Mann mit engelsgleicher Stimme sang über einen Elektrobeat von mutigen Vögeln. Ich fand das sehr cool, sehr indie, fast schon low-fi, passte eigentlich genau zu der Musik, die ich sonntags so auflegte. Ich wunderte mich immer mehr darüber, dass all das bisher an mir vorbei gegangen ist. Ich war doch top informiert. Ich hörte Radio, ich las Musikzeitschriften, ich arbeitete selber in einem Plattenladen und schrieb über Musik und nichts von dem, außer eben Madame Breut, war mir bisher bekannt. Seltsam aber auch toll.

Ich fuhr zum Einwohnermeldeamt, hatte noch eine Stunde Zeit bis zu meinem Termin, stellte mich auf den Parkplatz und hörte das Tape zu Ende. Das meiste war mit französischen Texten, aber es gab auch ein paar äußerst originelle Instrumental-Songs – einer sogar mit einem Rückwärts-Sample. Das ganze Ding war höchst unterhaltsam und gut. Als ich alles wieder beisammen hatte und mich dank neuem Pass, neuer Bankkarte und ausreichend Geld im neuen Portemonnaie fast wie ein neuer Mensch fühlte, traf ich eine Freundin und gab ihr das Tape zu hören. Ein paar Tage später rief sie an, um mir zu sagen, wie sehr sie das Tape von Oliver mochte.

Ich ging mit dem Tape ins Normal und überredete den Chef Musik davon zu bestellen. Das war gar nicht so einfach. Kein regulärer Vertrieb hatte die Künstler auf dem Tape im Programm. Irgendwann, nach und nach kamen aber über Import-Kanäle ein paar CDs an, und wenn ich Schicht hatte hörte ich die gerne und ab und zu konnte ich auch neugierige Kunden dafür gewinnen. Ich weiß noch, wie stolz ich war, als ich das erste Mal ein Jérôme-Minière-Album verkauft habe. Eine Kundin fragte nach Empfehlungen und sie setze sich an die Anhörstation und hörte das komplette Album durch. Von vorne bis hinten und ging am Ende glücklich damit nach Hause. Ich sprach mit meinem Chef darüber und der fand auch, dass das im Prinzip ja so ein Thema für eine Compilation wäre, vielleicht so eine Beilagen-CD in der Spex oder so.

Ich traf Oliver immer mal wieder. Wir spielten eine Zeitlang sogar Fußball zusammen. Es vergingen ein paar Jahre und oft wenn ich Oliver traf, sprachen wir über das Tape. Ich sagte ihm, dass ich mich wundern würde, dass die Musikindustrie so ein naheliegendes Thema nicht anpackt. Wir malten uns aus, was alles damit möglich wäre, wenn man einmal damit anfing. Aber wir hatten selbst keine Ahnung vom Geschäft und sagten dann: "Irgendwer wird damit in den nächsten Jahren bestimmt was machen". Und es passierte nichts. Ich kaufte mir selbst immer mehr französische Musik und entdeckte auch ein paar Künstler, die nicht auf dem Tape waren. Ich wurde Fan von Thierrry Stremler und Dominique A. Ich erzählte meiner Schwester, die ja schließlich in Frankreich lebte, und ihrem französischem Mann davon, und die kannten all die Namen überhaupt nicht. Ich fand das alles seltsam. Eine tolle Szene, kaum vier Zugstunden von Köln entfernt und kaum jemand verstand das Potential. In Frankreich war das noch ein Indie-Thema, in Deutschland gar keins. Und das änderte sich erst zehn Jahre nachdem Dominique A sein Lied über die Vögel im eisigen Wind aufgenommen hatte.

Und zwar auf der Popkomm 2001. Die Welt begann sich zu verändern. Ich hatte einen festen Job. Ich legte zwar noch auf und schrieb noch für die Stadtrevue, doch den Job im Plattenladen hatte ich gekündigt und beim Musik-TV schrieb ich auch nicht mehr. Die Dot-Com-Blase war gerade dabei, sich so richtig schön aufzupumpen und das verschaffte mir einen Job als News-Redakteur bei popkomm.de. Die Messe wuchs noch von Jahr zu Jahr und sie hatten die Zeichen der Zeit erkannt und eine passende Online-Präsenz aufgemacht. Mich hatte man angestellt, damit ich täglich vier bis fünf Meldungen aus der Musikwelt schreiben sollte, um Bewegung auf der Startseite zu generieren. Mein Chefredakteur hieß Ralf, war vorher bei der Spex, schrieb seit fast 20 Jahren über Musik und das Musikgeschäft. Ich war immer erstaunt wie viele Leute der kannte. Jedenfalls erzählte ich ihm von dem Tape und Ralf verstand das Potential sofort. Sogar noch viel besser als Oliver und ich. Er sagte, das sei was für das Feuilleton, weil in Deutschland immer so großer Respekt vor der französischen Kultur herrschte. Aha. Und als schließlich im August 2001 wieder Messe in Köln war, schubste Ralf mich an den Stand des französischen Export-Büros und sagte: "Du erzählst denen jetzt von diesem Tape." OK, Chef!

Und so ging das endlich los – 3 oder 4 Jahre nachdem mir Oliver das Tape gegeben hatte. Ich sprach mit den bezaubernden Laure und Emmanuelle auf der Popkomm – "Wenn du ein Label dafür findest, dann helfen wir dir" war ihre Ansage und das motivierte mich. Ich traf Oliver und seinen Freund Christian und wir stellten eine Demo-CD zusammen. Ralf fand das passende Label, 2 Monate nach der Popkomm waren wir ein Team. Der Chef, der das Risiko-Kapital für die Online-Präsenz verwaltete gab grünes Licht für das Projekt. Es sollte unsere Online-Marke im Offline-Geschäft stärken, so der verwegene Plan. Doch dann zog sich das alles wieder hin. Es gab regen Schriftverkehr mit Labeln und dem Exportbüro – doch für mehr als die Hälfte der Songs unseres Demos fehlten die entscheidenden Unterschriften. In der Zwischenzeit verschlechterte sich die Lage in der Dot-Com-Blase. Wir mussten unser schönes Büro in der Innenstadt aufgeben und die Sponsoren sprangen einer nach dem anderen ab. Und der Mann vom Label war langsam schon genervt von unseren ständigen Nachfragen nach den Songfreigaben.

Irgendwann hatte ich genug. Ich stieg in meinen Ford Focus (fällt dir was auf, lieber Leser?) und fuhr nach Paris. Mein Schwager sagte: "Du musst mit denen direkt vor Ort sprechen, sonst ändert sich nichts." Gute Ratschläge geben, das konnte Michel und so saß ich auf einmal im Vorzimmer bei einem Musik-Major in Frankreich, starrte auf goldene Schallplatten und wartete auf meinen Termin beim Business. Ich dachte jetzt würde es erstmal kompliziert. Doch tatsächlich musste ich fast nichts sagen. Dem Mann vom Major war das alles total peinlich. Er gestand mir, dass er sich immer davor drücken würde, an die richtige Tür zu klopfen, aber jetzt da ich ja da wäre würde er auch seinen Mut zusammen nehmen und sich die nötigen Unterschriften geben lassen. Er druckte alle acht Deal-Memos aus und kam eine viertel Stunde später wieder. Alles war signiert, alles war genehmigt. Der Mann vom Label daheim sagte: "Guter Job". Ach ja.

Und dann legten wir los. Ein Cover musste her. Ralf meinte: da muss eine Frau drauf. Ich fand im Frühjahr auf der Art Cologne ein Bild von einer Frau, die in einem Schaufenster neben einem Eiffel-Turm posierte. Der Typ vom Label meinte: "Da springe ich lieber von dem Eiffelturm." Ich kritzelte eine Frau mit einem Blumenstrauß auf einen Zettel. Und das kam dann irgendwie an. Von meinem Paris-Besuch hatte ich noch eine Eiffel-Turm-Schneekugel mitgebracht, die irgendwie mit in den Strauß sollte – doch die Idee wurde fallen gelassen. Wir machten einen Termin mit dem Fotografen, wir nickten die Bilder vom Model ab und irgendwann hatten wir das Ergebnis. Eine Frau hielt Blumen in die Kamera – ihr Gesicht dahinter versteckt. Auf dem ganzen Cover nicht ein Verweis auf Frankreich, kein Baguette, kein Hahn, keine Flasche Rotwein und auch kein Eiffelturm. Aber es stand groß drauf "Le Pop" und dazu der Untertitel "Die Chansons der Nouvelle Scène Française". Ich fand, das reichte. Ein – zugegebenerweise falscher – französischer Artikel, ein Accent-grave und ein C-circumflex, wer das sah, der wusste, dass das hier ein Album mit französischer Musik ist.

In der Zwischenzeit hatten sich die Dinge ziemlich dynamisch entwickelt. Zum einen zum Guten: die Berliner Filiale von dem Major, der so lange mit den Freigaben gezickt hatte, stieg mit ein und mit "Le Pop" sollten noch vier weitere Alben erscheinen. Ein Keren-Ann-Album, ein Benjamin Biolay-Album, ein Françoiz Breut-Album und nachdem wir ein bisschen nachgeholfen hatten auch noch ein Dominique-A-Album. Das hatte ich flugs auch noch mit Oliver zusammengestellt. Allerdings gab es auch Dinge, die alles andere als gut liefen. Ich wurde irgendwann zum Chef gebeten. Ich wusste was kam. Die Dot-Com-Blase war geplatzt. Das Geld war weg. Mein Job war weg. Ich fragte den Chef, ob ich das Projekt denn aus dem Konkurs retten dürfte und er meinte "Klar."

Und dann kam der Sommer. Ich war arbeitslos, sogar offiziell. Ich bekam – lange genug durchgehalten – sogar Arbeitslosengeld. Ich ging morgens ins Freibad und schaute bei einer Freundin mittags immer die Fußball-WM in Japan und Südkorea. Ich hatte nichts zu tun und habe es genossen. Doch auf einmal trudelten die Platten ein und die Promo-Welle ging los. Aber so richtig. Ich hatte mit all dem nicht gerechnet, ein bisschen drauf gehofft, klar. Und als die Fußball-WM vorbei war ging ich nach meinen Freibadbesuchen meist an einen Zeitungs-Kiosk. Ich kaufte das erste Mal in meinem Leben eine GQ, ich kaufte den Focus, ich besorgte mir die Zeit, die Faz und die Taz - mit Françoiz Breut auf der ersten Seite! Ich bekam Anrufe von Radio-Stationen und musste mit Oliver zusammen auf einmal Interviews geben. Und irgendwann im Herbst zu unserer recht verspäteten Release-Party war sogar das Fernsehen da. Jetzt musste ich wieder mit dem Auto rumfahren. Allerdings mit Kameramann auf der Rückbank. Ein paar Wochen später kam der Beitrag auf Arte. Dunkle Bilder im herbstlichen Licht. Dazu eine Stimme: "Es regnet in Köln. Doch Rolf Witteler hat gute Laune. Denn er hört französische Musik." Im Tapedeck lief nicht "Daft Pop" sondern "Le Pop", was aber zum größten Teil dasselbe war. Wir hatten die Sachen, die zu experimentell waren rausgeschmissen und es kamen noch ein paar Songs dazu. Aber eigentlich war das Olivers Tape. Und das war erst der Anfang.



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